Interview Im Gespräch mit Gisela Deussing, Thüringer Stiftung Handinhand

Die Thüringer Stiftung HandinHand wendet sich an Schwangere, Mütter und Familien und unterstützt diese in finanziellen Notlagen. Wie beurteilen Sie diese gesellschaftliche und politische Herausforderung bezogen auf den Bund?

Kinder sind unsere Zukunft! Zu diesem Grundsatz, den ich für sehr wichtig halte und den ich sehr ernst nehme, müssen alle Mitglieder der Gesellschaft stehen – von der Bundesebene über die Länderverantwortlichkeit und die kommunale Zuständigkeit bis in die breite Öffentlichkeit. Nur so ist es möglich, diesen Grundsatz mit Leben zu erfüllen (im wahrsten Sinne des Wortes). Die Geburt eines Kindes gehört zwar zu den schönsten und wichtigsten Ereignissen im Leben einer Frau, einer Familie. Aber die damit verbundenen wirtschaftlichen Belastungen führen sehr oft zu finanziellen Schwierigkeiten, die eine Unterstützung erfordern. Zum Beispiel waren im Freistaat Thüringen für 28,7 Prozent der Geburten im Jahr 2011 Hilfen in dieser Situation notwendig. Durch die Bundesstiftung Mutter und Kind war es möglich, diese Unterstützung zu realisieren und die entstandenen schwierigen Situationen zu erleichtern oder zu beseitigen.

Für die werdenden Mütter ist aber nicht nur die finanzielle Hilfe wichtig, sondern auch das Gefühl „Ich bin nicht allein – hier ist jemand, der mir helfen kann.“ trägt oft schon wesentlich zur Entspannung der schwierigen Situationen bei. Die im Rahmen der Arbeit der Schwangerschaftsberatungsstellen und der eventuellen Beantragung von Stiftungsleistungen notwendige Feststellung der individuellen Situation ist Grundlage für die weitere Beratung und Betreuung der Schwangeren. Die Existenz der Bundesstiftung und ihrer Hilfemöglichkeiten bietet damit auch die Voraussetzung für eine vielfältige und umfassende Unterstützung und für die individuell notwendigen Förderungen: Unterstützung bei der Geltendmachung von Rechtsansprüchen auf soziale Leistungen, Vermittlung weiterführender Beratungsangebote, „Türöffnerfunktion“ in das System der Frühen Hilfen.

Die Arbeit der Bundesstiftung Mutter und Kind ist wichtig und unverzichtbar und kann durch ähnliche Institutionen auf Länder- oder kommunaler Ebene ergänzt werden. In unserem Bundesland ist dies mit der Thüringer Stiftung HandinHand gelungen, die parallel zu den Hilfen der Bundesstiftung Unterstützung gewähren – zum Beispiel bei der Beseitigung von Zahlungsrückständen – und vor allem Familien in schwierigen Situationen helfen kann. Im Mittelpunkt steht dabei jedoch immer die Verbesserung der Situation für die Kinder in der Familie.

Sind die Notlagen der Schwangeren heute anders als vor 20 Jahren? Welche Probleme stehen hierbei im Vordergrund und wie kann die Stiftungsarbeit helfen?

Die eigentliche Problemlage ist auch nicht anders als vor 20 Jahren. Es besteht eine Schwangerschaft und die Frauen und Familien sind mit den damit verbundenen Belastungen einfach überfordert, können das finanziell nicht bewältigen.

Die bestehenden Situationen der werdenden Mütter, zu denen dann noch die Schwangerschaft hinzukommt, haben sich aus meiner Sicht allerdings sehr verändert. Vor allem der Anteil der Schwangeren, die aufgrund einer Beschäftigung im Niedriglohnsektor mit den Vorbereitungen auf die Geburt eine besondere große Hürde zu bewältigen haben, hat zugenommen. Da hilft oftmals auch nicht die Möglichkeit der aufstockenden Leistungen nach SGB II, durch die dann auch eine Gewährung von Leistungen zur Babyausstattung möglich ist. Die damit verbundenen Auflagen für alle Familienmitglieder zur Beschaffung eines anderen, besser entlohnten Arbeitsplatzes, auch wenn sie zum Teil schon viele Jahre in dieser Tätigkeit beschäftigt sind, erscheinen unrealistisch und lösen Ängste bei den Betroffenen aus.

Festzustellen ist auch ein verändertes Verhalten bei der Wohnraumgestaltung, wenn sich ein weiteres Familienmitglied ankündigt. Waren die Schwangeren und Familien vor einigen Jahren noch schneller bereit, einen Wohnungswechsel vorzunehmen, denken sie jetzt häufiger über eine Veränderung und Umgestaltung der vorhandenen Wohnung nach, da Ängste bezüglich der künftigen Bezahlbarkeit der Miete bestehen. Die Bundesstiftung kann auch dabei mit finanziellen Hilfen zur Realisierung dieser Veränderungen beitragen.

Insgesamt fällt auf, dass mittlerweile in vielen Familien mehrere Problemlagen nebeneinander bestehen. Dies hat in den letzten Jahren sehr zugenommen. Kommt dann noch eine Schwangerschaft hinzu, kann das sehr schnell in eine für die Betroffenen ausweglos erscheinende Situation führen. Hier kommt vor allem den Schwangerschaftsberatungsstellen vor Ort eine hohe Verantwortung zu, in der jeweiligen Situation entscheidende Wege zu weisen, die Schwangeren entsprechend zu begleiten und auch gemeinsam mit der Stiftung und der werdenden Mutter wirksame Möglichkeiten der Unterstützung festzulegen.

Aus welchen Beweggründen haben Sie sich in der Arbeit der Bundesstiftung engagiert?

In meiner langjährigen Mitarbeit im Kuratorium der Bundesstiftung Mutter und Kind, aber auch bei den Arbeitstreffen der Zuwendungsempfänger war und ist es mein besonderes Anliegen, die unmittelbaren Probleme an der Basis, das heißt bei der Antragsbearbeitung und -entscheidung einzubringen. Dabei ist immer wieder die Vorrangigkeit aller anderen Leistungen, auch der gesetzlichen, im Verhältnis zu den Hilfen der Bundesstiftung anzusprechen. Vor allem im Bereich der Leistungen für Babyausstattung nach SGB II oder XII kommt es aufgrund der unterschiedlichsten Verfahrensweisen bei der Gewährung dieser Leistungen zu Situationen, die eine einzelfallgerechte, wirksame Hilfe durch Stiftungsmittel erschweren. Hier könnte eine eindeutigere und realistische Festlegung der gesetzlichen Leistungen enorme Entlastung vor allem für die werdende Mutter bieten.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang aber auch, die Vergabepraktiken in den Bundesländern in ihrer Unterschiedlichkeit und Vielfalt beizubehalten. Damit ist gesichert, dass die Erfahrungen vor Ort, sowohl in den Schwangerschaftsberatungsstellen als auch bei anderen beratenden und betreuenden Diensten unmittelbar in den Hilfeprozess einbezogen und bei der Vergabe der Stiftungsmittel berücksichtigt werden können.

Sie haben im vergangenen Jahr 20-jähriges Stiftungsjubiläum gefeiert. Die Neunzigerjahre waren speziell in Thüringen von gesellschaftlichen Umbrüchen geprägt. Beispielsweise hat sich damals die Rechtslage in Bezug auf Schwangerschaftsabbrüche geändert. Hat sich dadurch auch die Stiftungsarbeit verändert?

Wie in allen neuen Bundesländern waren dies auch in Thüringen Jahre vieler Veränderungen. Die geänderte Rechtslage in Bezug auf die Schwangerschaftsabbrüche hat sicher die Beratungsansätze verändert. Auf die Stiftungsarbeit hatte dies jedoch keine unmittelbare Auswirkung. Im Verlauf der letzten 20 Jahre musste sich die Arbeit der Stiftung aber immer wieder auf geänderte gesetzliche Grundlagen einstellen, oftmals für die vorrangigen Leistungen. Dazu soll hier nur ein Beispiel angeführt werden – die Leistungen nach SGB II bzw. XII. Die Umstellung vom BSHG auf SGB II/ XII war für alle Beteiligten nicht einfach, viele Veränderungen waren zu beachten und umzusetzen, auch die Stiftungsarbeit betreffend. Die anfänglich positive Verfahrensweise, dass die Leistungen für die Betroffenen gebündelt an einer Stelle geklärt werden konnten, hat sich mittlerweile aber wieder dahin gehend geändert, dass zum Beispiel erst wieder Wohngeld geklärt werden muss, bevor die Entscheidung über das ALG II getroffen wird oder die Einführung des Kinderzuschlages, die manche Familien in wahre Odysseen stürzt.

Können Sie aus Ihrer persönlichen Erfahrung ein Beispiel für die erfolgreiche Unterstützung von jungen Frauen und Familien nennen?

Ein einzelnes Beispiel herauszugreifen, ist sehr schwierig. Sind es doch seit Bestehen der Thüringer Stiftung HandinHand mehr als 102.000 Schwangere, denen mit Stiftungsmitteln in der Vorbereitung auf die Geburt und das Leben mit ihrem Kind geholfen werden konnte. Die Antragstellungen spiegeln nach meinem Empfinden wider, wie unterschiedlich die Probleme des Lebensalltags sind und mit welchen Herausforderungen gerade werdende Mütter konfrontiert werden. Da ist es ganz wichtig, dass sie durch die Schwangerschaftsberatungsstellen und die Bundesstiftung Mutter und Kind Unterstützung und Hilfe erfahren können, letzteres eben auch in ganz praktischer Art und Weise durch direkte finanzielle Hilfen. Die zahlreichen Rückinformationen, oft auch mit einem Foto des neuen Familienmitglieds als kleines Dankeschön, zeigen die Notwendigkeit der gewährten Hilfen und bestätigen die getroffenen Entscheidungen.

Aber um ehrlich zu sein, gibt es natürlich einige Anträge, die mich schon berühren und auch mal für eine schlaflose Nacht gesorgt haben. Da ist zum Beispiel die junge Mutter, die während der Schwangerschaft stationär behandelt werden muss und nicht weiß, wer ihr älteres Kind in dieser Zeit betreuen kann bzw. wer die dafür erforderlichen Kosten übernimmt. Nachdem die Stiftung Hilfe zugesagt hatte, konnten plötzlich doch gesetzliche Leistungen dafür gewährt werden und die Stiftungsleistung wurde nicht mehr benötigt. Aber eine Hilfe für die werdende Mutter war es trotzdem – sie konnte sich erst einmal beruhigter auf den Krankenhausaufenthalt vorbereiten.

In Erinnerung geblieben ist mir auch ein Antrag aus den ersten Jahren meiner Tätigkeit bei der Stiftung – eine junge Frau mit ihrem Partner, der nicht der Vater des ungeborenen Kindes war, der aber zu ihr stand und mit ihr alle Probleme lösen wollte, denn die hatte der leibliche Vater des Kindes in Form von Schulden reichlich hinterlassen. Um die bestehende Situation umfassend zu verbessern, trafen sich alle Beteiligten in der Geschäftsstelle der Stiftung, auch einen Schuldnerberater konnten wir kurzfristig zur Mitarbeit gewinnen. Durch diese gute Zusammenarbeit und unter Einbeziehung der möglichen Hilfen aus der Landesstiftung konnte bis zur Geburt des Kindes die Situation weitgehend bereinigt und durch Vergleichszahlungen die Schuldentilgung in verträgliche Bahnen gelenkt werden. Auch die Mittel der Bundesstiftung waren eine wirksame Hilfe für das junge Paar.

Problematisch ist auch immer wieder die Situation schwangerer Studentinnen oder Auszubildenden. Hier kommt es oft zu Unstimmigkeiten bei der Gewährung gesetzlicher Leistungen, da die Entscheidung eines Amtes von der Klärung an einer anderen Stelle abhängig gemacht wird, die jungen Frauen aber damit keinerlei Hilfe zur Verfügung haben.
Und, und, und … 20 Jahre Stiftungsarbeit und über 102.000 werdende Mütter und ihre großen und kleinen – auch die lernt man kennen – Sorgen bewegen.